In einem meiner letzten Coachings wurde seitens meines Kunden schon eingangs sein „schlechtes Gewissen“ (keyword) thematisiert. Möglicherweise können die nachstehenden kurzen Ausführungen in Beratungsprozessen hilfreich sein, sei es als offen zu legendes „Metakommunikationsangebot“, sei es, um daraus passgenaue Methoden bzw. „Werkzeuge“ zu entwickeln:
Doppelte systemische Natur
Jeder Mensch zeichnet sich durch eine „doppelte systemische Natur“ aus – einerseits ist er existenziell bezogen auf andere Menschen und verspürt den Drang, Teil einer menschlichen Gemeinschaft zu sein – andererseits lässt er sich als autopoietisches, also sich selbst produzierendes und organisierendes, System beschreiben, dessen innere Organisation nicht unmittelbar an seine Kontextbedingungen gekoppelt ist.
Zwischen Autonomie und Loyalität – die zentrale Aporie
Jeder Mensch befindet sich/oszilliert also prinzipiell ständig in einer Ambivalenzposition/zwischen Autonomie und Loyalität. Dies lässt sich als das zentrale Dilemma der menschlichen Existenz bezeichnen.
Das Empfinden von Schuld bzw. Schuldlosigkeit
Jeder Mensch ist stets Teil eines/mehrerer größeren/größerer sozialen Systems/Systeme. Wir können diese/s als Zugehörigkeitssystem/e bezeichnen. Dieses ist/Diese sind prägend etwa für den Selbstwert sowie die eigene Identität und ist/sind für unsere Gewissensbildung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft maßgeblich. Das Empfinden von Schuld nun ist nur in Bezug auf diese Zugehörigkeit – nämlich bei Verstoß gegen die jeweiligen Regeln/Normen eines Zugehörigkeitssystems – möglich. Schuldlosigkeit empfinden wir demnach bei Einhaltung der Regeln/Normen eines Zugehörigkeitssystems.
Systemisches Sinnesorgan
Das Gewissen eines Menschen kann demnach als „systemisches Sinnesorgan“ beschrieben werden, welches sich schmerzhaft bemerkbar macht, wenn der Mensch gegen die Regeln eines seiner sozialen Zugehörigkeitssysteme/seines Zugehörigkeitssystems („schlechtes Gewissen“) verstößt.
Systemisches Gleichgewichtsorgan
Da sich sich die meisten Menschen in mehreren Zugehörigkeitssystemen „bewegen“, kann (und wird) das Einhalten der Regeln des einen selten/manchmal/häufig zwangsläufig einen Verstoß gegen die Regeln des anderen bedeuten, wobei die Gewissensbindung zu den unmittelbar nächsten Systemen grundsätzlich am größten ist. Prinzipiell fühlen wir Menschen uns den „näheren“ Systemen (etwa Familie) stärker verpflichtet als den „weiter entfernten“ (etwa Arbeitssystem). Das Gewissen kann somit auch als „systemisches Gleichgewichtsorgan“ definiert werden, mithilfe dessen der Mensch die unterschiedlichen – selbst konstruierten – „Systemansprüche“ an ihn auszubalancieren versucht.
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