Das Gewissen als systemisches Gleichgewichtsorgan – Teil 2


Zum 1. Teil des Beitrags

Das Gewissen als Konstruktionsleistung

Diese Regeln und Normen sind nicht objektiv gegeben, es sind vielmehr Konstruktionen, die der/die Einzelne wahrzunehmen meint, die er bzw. sie subjektiv für die Wirklichkeit hält. Für das menschliche Gewissen sind also Normen und Regeln ausschlaggebend, die der/die Einzelne zu seinen bzw. ihren „gemacht“ hat, die er/sie verinnerlicht hat – diese werden sich von etwa geschriebenen „objektiven“ Regeln/Normen unterscheiden, welche demnach nur Umweltanregungen für ihn/sie darstellen. Das autonome System „Mensch“ entscheidet selbst darüber, wie es das Regel-Set konstruiert und die Umweltanregungen unterschiedlicher Umweltsysteme zu einem einzigartigen „Gewissen“ kombiniert.

Die Stärke der Bindung

Wovon hängt die Stärke der Loyalitäts- und Gewissensbindung ab? Als Faktoren können etwa wie folgt identifiziert werden: Der Grad der erlebten Abhängigkeit von dem betreffenden Zugehörigkeitssystem, der Grad der Identifikation mit den Regeln und Normen desselben, das Ausmaß der erlebten Aufwertung durch die Mitgliedschaft zum betreffenden System, die Intensität der Beziehungen zwischen den Systemmitgliedern, die Identifikation mit den System-Zielen, usw.

Menschliche Freiheit und Gewissensbindung

Die Fähigkeit, sich ein schlechtes Gewissen sozusagen zulegen zu können, kann als Kompetenz und als Ausdruck menschlicher Freiheit betrachtet werden. Ein schlechtes Gewissen ist somit der Preis dafür, sich individuell frei von bestimmten Systembindungen zu zeigen. Das beständige Austarieren der Bindung/Nichtbindung zu den konstruierten Regeln der unterschiedlichen Systeme, in die der/die Einzelne „eingebettet“ ist, ist eine in hohem Ausmaß wertzuschätzende Leistung.

Zur Arbeit im Coaching

Soweit es sich im Rahmen eines Coachings nach dem „Wiener T-A-Z-A-Modell“ (Ziel- und Auftragskompatibilität) anbietet, könnten die vorstehenden Ausführungen einer Kundschaft in verkürzter bekömmlicher Form dargeboten werden. Dieses Angebot kann dann unter Umständen seitens der Kundin/des Kunden genutzt werden, um zu alternativen gedanklichen Konstruktionen (anderes „Austarieren“) zu kommen. Die Kundschaft könnte auch seitens der Coach/des Coaches zum Externalisieren angeregt werden, etwa dazu, die unterschiedlichen Systeme samt ihrer Regeln auf dem Systembrett zu verorten und damit – etwa mittels zirkulärer Fragen – andere Konstruktionen zu „erfinden“. Auch das Arbeiten mit mehreren Stühlen oder die Arbeit mit dem „inneren Team“ könnten sich anbieten. In meiner Beratungspraxis hat sich jedenfalls sehr häufig das Fragen nach dem jeweilig verbundenen „Gewinn“ und dem damit korrelierenden „Preis“ als wesentlich erwiesen.


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