An mich wurde das Ersuchen herangetragen, möglichst kurz und bündig darzustellen, welche Implikationen die systemische Theorie/systemische Theorien für meine Arbeit als systemisch-lösungsorientierter Berater haben. Ob ich das kurz und bündig schaffen werde, sei einmal dahingestellt, aber es ist jedenfalls einen Versuch wert, selbstverständlich ohne irgendeinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Pragmatischer Ansatz
Eingangs ist mir sehr wichtig darauf hinzuweisen, dass für mich eine Theorie keinen Wert an und für sich hat, sondern diesen erst dadurch erlangt, dass sie sich in der Praxis als hilfreich erweist. Es gilt zudem: Theoretische Inhalte, Form (etwa Struktur und Setting) sowie Haltung und Menschenbild sind mehrere Seiten ein und derselben Medaille. „Ein bisschen systemisch“ geht genausowenig wie „ein bisschen schwanger“ – dies schließt integrative Ansätze keinesfalls aus, doch lassen sich hierbei auch Grenzen (vor allem hinsichtlich Haltung und Menschenbild) ziehen.
Systemisch – eine mögliche Annäherung
Stellen Sie sich vor, Sie platzieren eine Anzeige in einer Tageszeitung, um der interessierten Leserinnen- und Leserschaft den Beginn einer systemischen Konfliktbearbeitungsfortbildung kund zu tun und erhalten am Tag des Erscheinens einen Anruf, „was denn bitte genau mit einer >systematischen Meditationsausbildung< gemeint ist?“, gefolgt von mehreren erbosten Statements von Meditationslehrerinnen und -lehrern, welchen Unsinn wir uns denn da ausgedacht hätten. So geschehen kurz vor der Jahrtausendwende, vor dem großen „systemischen Hype“ in Beratung, Führung, usw. Heutzutage erkennen Rechtschreibprogramme sowohl „systemisch“ als auch „Mediation“ und korrigieren diese nicht mehr automatisch.
Seitdem hat sich einerseits viel Positives getan, andererseits hat sich dermaßen Vieles als „systemisch“ etikettiert, sodass ich mittlerweile ganz froh bin, dass diese Mode meiner Beobachtung nach langsam wieder im Abklingen begriffen ist – allmählich lässt es sich wieder unaufgeregter und ruhiger systemisch arbeiten. Zu oft habe ich in den letzten Jahren von „klassischen Maschinenmodell-Beraterinnen und -Beratern“ gehört, dass sie bei Nachfrage seitens potenzieller Auftraggeberinnen und -gebern ins Treffen geführt hätten, „das Systemische klarerweise bei Bedarf auch >drauf zu haben<“, womit häufig das Verwenden unterschiedlicher ziel- und lösungsorientierter Fragetechniken gemeint war. Gleich geblieben ist die Anforderung, die/eine Bedeutung des Wörtchens „systemisch“ so zu vermitteln, dass dazu weder eine (mehrsemestrige) Vorlesung über das Werk von Niklas Luhmann erforderlich ist noch mittels einer esoterisch anmutenden „Alles ist mit allem vernetzt“-Floskel operiert wird.
Für mich – und dieses „für mich“ ist gerade hier besonders wichtig – sind vor allem drei Prinzipien essenziell, um „systemisch“ zu erklären (auch wenn kritische Stimmen gleich anmerken könnten, dass ich da maßgebliche Essenzen des Konstruktivismus und der Kybernetik 2. Ordnung gleich „mitverdefiniere“):
- Viele Wirklichkeitskonstruktionen anstelle einer Wahrheit,
- Kontextabhängigkeit und Zirkularität, sowie
- Eigen-Logik lebender (sozialer) Systeme und Wertschätzung.
Da alleine schon diese Begrifflichkeiten für viele Interessierte so etwas wie „unverdauliche Zumutungen“ darstellen, möchte ich unverzüglich eine (hoffentlich etwas) leichtere Kost servieren:
Viele Wirklichkeitskonstruktionen anstelle einer Wahrheit
Stellen sie sich vor, dass jede und jeder von uns sich ihre/seine Wirklichkeit/en zu unterschiedlichen Zeiten neu und anders erfindet. Machen Sie ein Experiment: Bitten Sie verschiedene Menschen darum, sich einen Hund vorzustellen – oder „verbieten“ Sie diesen paradoxerweise, an einen Hund zu denken, wenn Sie ganz sicher gehen und schmunzeln wollen – und fragen Sie dann, um welchen Hund es sich handelt, wie groß, welche Farbe/n, usw. Es wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit ein Sammelsurium unterschiedlichster Vierbeiner ergeben, das sich etwa nach allfälligen Hundebissen durchaus verändern könnte.
Wir alle verfügen demnach über unterschiedlichste Landkarten, niemand aber hat die Landschaft. Jede und jeder von uns nimmt anders wahr. Dies ist zu respektieren, denn Wahrnehmungen sind weder richtig noch falsch. Abhängig davon, wie wir unsere Wirklichkeit/en erfinden, wird es – ob wir wollen oder nicht – zu unterschiedlichen Auswirkungen kommen. Und deshalb gönne ich Ihnen – und meinen Kundinnen und Kunden – für Sie/diese günstige Wirklichkeitskonstruktionen, die Ihnen/ihnen große Verhaltensspielräume erlauben.
Für meine Beratungspraxis bedeutet dies etwa: Anerkennen, Respektieren, Wertschätzen sowie Anknüpfen der/an die Wirklichkeitskonstruktionen von Kundinnen und Kunden; nach der Klärung von Thema/Themen – Anliegen – Ziel und Auftrag (T-A-Z-A) oftmals: Hinterfragen „lähmender“ Gewissheiten, Anregen alternativer Sichtweisen, Erfragen von Ausnahmen, usw.
Kontextabhängigkeit und Zirkularität
Kurz und bündig: Nichts ist richtig oder falsch ohne Berücksichtigung des Kontextes. Ein Beispiel gefällig? Die Entscheidung eines Unternehmers, massiv in eine gastronomische Einrichtung zu investieren und dafür Kredite aufzunehmen, kann kurz vor Ausbruch der Covid 19-Pandemie „goldrichtig“, ein paar Wochen später hingegen „völlig falsch“ gewesen sein. Der Kontext macht den Unterschied. Einem anderen Menschen, den man erst kurz kennt, aus Freude herzhaft auf die Schulter zu klopfen, mag bei einem „Altherren“-Fußballspiel in Wien-Hernals völlig angemessen sein, bei einem Neujahrsempfang in der thailändischen Botschaft hingegen völlig „daneben“.
Und dann noch die „Kausalitätsfalle“: Das Prinzip von Ursache und Wirkung funktioniert bei trivialen Maschinen hervorragend, bei komplexen Systemen wie etwa Menschen oder Organisationen hingegen kaum, und wenn doch, dann oft eher zufällig. Ein Beispiel dazu: Wenn der Motor meines Autos nicht anspringt und ich finde heraus, dass es an der Zündkerze liegt, dann tue ich gut daran, diese zu wechseln – und schon geht’s los. Alternativ dazu in Kommunikation mit meinem Motor zu treten, eine Arbeitsgruppe einzuberufen, die meinen Motor und mich bei der Interaktion beobachtet und dann darüber reflektiert und dergleichen wäre – im Falle dieses trivialen Systems (ich besitze ein altes Auto) – eher wenig intelligent. Doch was ist der Grund dafür, dass ein Unternehmen, welches über Jahrzehnte satte Gewinne gemacht hat, sukzessive gegenüber der Konkurrenz an Boden verliert? Die geänderten Bedürfnisse von Kundinnen und Kunden, die neue Rechtslage, die schlechtere Produktqualität, die mangelnde interne Kommunikation? Oder ganz etwas Anderes? Oder eine Kombination verschiedener Faktoren?
Zirkularität bezeichnet rekursiv-spiralförmige Prozesse. Wenn jede Ursache nichts anderes ist als die Wirkung einer vorhergehenden Ursache, dann hängt es von meiner willkürlichen Interpunktion ab, ob ich von Ursache oder Wirkung spreche. Beispiele: Unternehmen stellen Produkte her (Wirkung), weil Konsumentinnen und Konsumenten diese nachfragen (Ursache) – oder ist es umgekehrt? In einer Paarbeziehung: Sie bleibt länger im Wirtshaus (Wirkung), weil er schimpft, wenn sie später nach Hause kommt (Ursache). Oder doch andersherum? Die Arbeitskollegin hilft dem Kollegen wieder nicht (Wirkung), weil dieser ihr beim letzten Mal nicht den Vortritt bei der Urlaubsplanung gelassen hat (Ursache) – oder doch andersherum?
Für meine Beratungspraxis bedeutet dies etwa – nach der Klärung von Thema/Themen – Anliegen – Ziel und Auftrag (T-A-Z-A) oftmals: Gemeinsames Transparentmachen der relevanten Umweltsysteme von Kundinnen und Kunden (etwa mittels Externalisieren auf dem Systembrett), Anregen alternativer Erklärungsmodelle, Einbringen möglicher Sichtweisen relevanter Umweltsysteme (zirkuläres Befragen von Anwesenden im Teamcoaching, zirkuläres Befragen von „abwesenden Realen“ („Wenn ich Ihren Vorgesetzten fragen würde….“), zirkuläres Befragen von „abwesenden Nichtrealen“ („Wenn ich einen Ihnen wohl gesonnenen Experten in solchen Dingen fragen würde…“), spielerisches „Umdrehen“ von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen sozusagen „auf der Probebühne“, usw.
Eigen-Logik lebender (sozialer) Systeme und Wertschätzung
Lebende Systeme sind autopoietisch – dies bedeutet, mit Humberto Maturana und Francisco Varela gesprochen, „dass es (das Lebewesen) sich sozusagen an seinen eigenen Schnürsenkeln emporzieht und sich mittels seiner eigenen Dynamik als unterschiedlich vom umliegenden Milieu konstituiert.“ Lebende Systeme erzeugen und erhalten sich demnach selbst, sind strukturdeterminiert und verhalten sich autonom gegenüber ihrer Umwelt. Somit sind sie von außen nicht direkt instruierbar, sondern nur anregbar bzw. „verstörbar“.
Auch dazu ein Beispiel: Wenn ein Mitarbeiter von seiner Vorgesetzten zu einer Schulung zum Thema „Wissensmanagement“ geschickt wird und das Erlernte in der Folge trotz Anweisung nicht im eigenen Tätigkeitsbereich umsetzt, so wird er dieses Verhalten aus seiner Sicht womöglich aus gutem Grund – und also sehr kompetent – zeigen: Vielleicht hat er die Sorge, sich durch Preisgabe seines Wissens in Zukunft entbehrlich zu machen, vielleicht hat er die Befürchtung, bei erfolgreicher Umsetzung in der Folge nur mehr mit solchen Agenden betraut zu werden (es gibt viele – nicht beobachtbare – Möglichkeiten bzw. Motivlagen). Der Mitarbeiter folgt seiner Eigen-Logik, die Schulung kann da bloß eine Anregung sein. Es kann jedoch nicht vorhergesagt werden, wie der Mitarbeiter darauf reagiert.
Eine wertschätzende Haltung zu und ein wertschätzender Umgang mit Menschen – so wie mit sämtlichen lebenden (sozialen) Systemen – ist für mich eine glasklare Konsequenz der bisherigen Ausführungen. Es gilt die sogenannte „Potenzialhypothese“, also die Annahme, dass jeder Mensch praktisch immer schon sämtliche Kompetenzen für hilfreiche Lösungen als Potenzial in sich trägt, auch wenn dieses oftmals zunächst schwer zugänglich sein mag.
Für meine Beratungspraxis bedeutet dies: Anerkennen, Respektieren und Wertschätzen der Ressourcen und Kompetenzen sowie der Lösungsfähigkeiten der Kundschaft; Verzicht auf instruktive Kommunikation; Einbauen von Rückmeldeschleifen in die Beratung („Ist das bisher Besprochene für Sie hilfreich?“); Wahrung des „Hoheitsgebiets“ der Kundin bzw. des Kunden; wertschätzendes Ignorieren der eigenen Konstruktionen bzw. bekömmliches Anbieten derselben durch behutsames Offenlegen – und Berücksichtigen der Neutralitätsgebote.
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