Umwege können die Ortskenntnis erhöhen…


Heute habe ich es wieder einmal geschafft, mir einen Umweg zu gönnen – unfreiwillig, das gebe ich gerne zu: Auf dem Weg von einem gemeinsamen Frühstück mit einem lieben Freund wollte ich noch rasch in ein Sportgeschäft, um nach neuen Laufschuhen Ausschau zu halten (meine derzeitigen sind schon eine Zumutung für meine Füße). Zu meinem großen Ärger stand „Wegen Inventur heute geschlossen“ an der Tür. Und dann bin ich – keine Ahnung wie – in ein Geflecht von kleinen Gassen gekommen, wollte dann auch nicht umkehren und ging so etwa in der Richtung der von mir benötigten Straßenbahnhaltestelle weiter.

Was soll ich sagen: Der zusätzliche Zeitaufwand – richtiger die zusätzliche zeitliche Investition – hat in etwa 45 Minuten betragen. Vielleicht schütteln Sie jetzt den Kopf und halten mich für einen verwirrten Kerl. Doch kommen wir zur Umwegrentabilität (was für ein feines Wort in diesem Zusammenhang): Ich habe nämlich aufgrund meines Umwegs ein kleines Antiquariat entdeckt und dort überaus günstig eine Ausgabe von Martin Bubers Werk „Das dialogische Prinzip“ aus dem Jahr 1973 erstanden, ein kleines Geschäft mit originellen Postkarten in der Auslage (leider wegen Sommerferien geschlossen) aufgespürt und einen hervorragenden Espresso in einem mir bis dato unbekannten Cafe genossen.

Übrigens: Umwege „passieren“ mir öfters, so habe ich etwa etwa beim „Verfahren“ in einer fremden Stadt schon so manche Sehenswürdigkeit erspäht, beim „Verlaufen“ in der Wiener Innenstadt mein nunmehr bevorzugtes asiatisches Restaurant aufgestöbert, beim „Verirren“ in Lemberg einen jetzt mir sehr lieben Bekannten kennen gelernt, usw. Navigationsprogramme verweigere ich üblicherweise mit Freuden, obwohl diese aufgrund ihrer eingeschränkten Benutzerfreundlichkeit hin und wieder durchaus brauchbare „Umweg-Generatoren“ sind…

In seinem Beitrag mit dem Titel „Die Stadt wird ergangen: Wien bei Schnitzler, Musil, Doderer“ (in Sommer, G. (Hrsg.): Gassen und Landschaften. Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft, Band 3, S. 105-122; Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004 – anlässlich eines Umwegs vor etwa zwölf Jahren in einer kleinen Buchhandlung in Berlin von mir erstanden) schreibt der unvergleichliche Wendelin Schmidt-Dengler: „Entscheidend ist, dass dieses Bauwerk (die Strudlhofstiege) zu einem Sinnbild wird für das, was Doderer … als Konzept für die Kunst mitliefern wollte: die Notwendigkeit des Umwegs, der schließlich wichtiger ist als jede Form von Weg an sich …“ Und weiter: „Der Umweg ist Prämisse für Kenntnisse und Erkenntnisse.“

In „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ von Johann Wolfgang von Goethe spricht der Geist des alten Königs von Dänemark: „Steile Gegenden lassen sich nur durch Umwege erklimmen, auf der Ebene führen gerade Wege von einem Ort zum anderen.“ (Siebentes Buch, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 7, S. 495; München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1999). Schließlich hat Goethe in seinem Bericht über die „Italienische Reise“ 1816 notiert: „Heute abend hätte ich können in Verona sein, aber es lag mir noch eine herrliche Naturwirkung an der Seite, ein köstliches Schauspiel, der Gardasee, den wollte ich nicht versäumen, und bin herrlich für meinen Umweg belohnt.“ (in Vom Brenner bis Verona, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 11, S. 28; München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1999).

Vielleicht haben Sie ja Lust auf ein Experiment: Wenn Sie in einer Angelegenheit auf direktem Wege bislang nicht weiter gekommen sind, bauen Sie doch probehalber einen Umweg ein – und achten Sie auf die Unterschiede. Klarerweise nur wenn Sie möchten…


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