Exakter Ausgleich trennt: Eine Geschichte vom Bazar in Tunis


Systemische Ausgleichsprinzipien – Ausgleich zwischen Geben und Nehmen

Seit längerer Zeit schon beschäftige ich mich mit/beschäftigen mich systemische Ausgleichsprinzipien (vgl. auch den Beitrag „Systemische Ausgleichsprinzipien und ökonomischer Schuldbegriff“). Im Rahmen meiner Beratungsarbeit bin ich oftmals über deren praktische Relevanz – insbesondere in Konflikt(auflösungs)systemen – erstaunt.

Diese Prinzipien finden sich zu einem Gutteil bereits in den „Geschichten der Chassidim“ (vgl. etwa Martin Buber: „Die Erzählungen der Chassidim“ oder „Die Geschichten des Rabbi Nachman“, etc.) sowie bei Iván Böszörményi-Nagy (der unter anderem den Begriff der „vielgerichteten Parteilichkeit“ – der als „Allparteilichkeit“ Eingang in die Literatur gefunden hat – geprägt hat). Sie wurden in der Folge unter anderem von Bert Hellinger aufgenommen und schließlich im Rahmen der SySt-Arbeit (Systemische Strukturaufstellungsarbeit) von Matthias Varga von Kibéd maßgeblich weiterentwickelt und ergänzt.

Ökonomische Umdeutung von „Schuld“ in „Schulden“

Grundlegend für die Genese systemischer Ausgleichsprinzipien ist die ökonomische Umdeutung ethischer Begriffe: „Schuld“ wird in „Schulden“ umgedeutet, anstelle von „Gut-Böse“ bzw. „Richtig-Falsch“ geht es um „Ausgleichsbedürftigkeit“ bzw. „Ausgleichsverpflichtung“. Fragen wie etwa „Was war die Ursache?“, „Wer war woran schuld?“, „Was ist richtig?“ oder „Wer hat recht?“ werden dabei „ersetzt“ durch „Worin könnte ein gelungener (annehmbarer) Ausgleich bestehen?“

An dieser Stelle möchte ich nur darauf hinweisen, dass dem Prinzip „Der eigentliche Ausgleich liegt in der Anerkennung der Ausgleichsverpflichtung“ eine zentrale Rolle in der Deeskalierung von Konflikten zukommen kann, ja meiner Erfahrung nach erlittenen Gesichtsverlust „zum Besseren wenden“ und dadurch Lösung(en)orientierung befördern kann.

Kundenbindung – den Schatten einer gemeinsamen Zukunft werfen

„Exakter Ausgleich trennt“: Über dieses Prinzip bin ich gerade eben wieder „gestolpert“, woraufhin mir ein Erlebnis im Bazar von Tunis eingefallen ist, das nun auch schon mehr als zwei Jahrzehnte zurückliegt. Beim Schlendern durch das dortige rege Treiben waren mir kleine silberne Öllampen aufgefallen – ähnlich wie „Aladins Wunderlampe“. Ich betrieb in der Folge etwas Marktforschung und verglich Ware und Preise an unterschiedlichen Marktständen, bis ich endlich – aufgrund diverser Erfahrungen in Tunesien und Marokko sowie meiner sehr spärlich ausgestatteten Geldbörse – mit der Absicht, jedenfalls „wirklich gut“ zu feilschen, einen kleinen Laden betrat und nach längerem Umherstreifen mit möglichst uninteressiert wirkender Miene eine von den hübschen Lampen in die Hand nahm.

Dann begann das Spiel, wie bei einem Tanzpaar, wo Tänzerin und Tänzer beide stets mit einem „Pferdeauge“ nach einem/einer potenziell anderen Partnerin/Partner schielen, das Ausschau halten nach einer Antwort auf die Frage der Austauschbarkeit der Partnerin bzw. des Partners. Zu diesem speziellen Tanz gehörte auch das Verlassen der Tanzfläche (des Ladens), das Zurückholen durch den Händler, das Jammern, das Drohen, das Schmeicheln, das Anschreien, etc. – es wurden sämtliche Register gezogen. Letzten Endes waren wir bei nicht einmal einem Drittel des seitens des Händlers erstgenannten Preises angelangt – und es kam zur Einigung. Der Händler verpackte die Ware mit einem „fluchenden Lächeln“ (oder war es ein „lächelndes Fluchen“?) und geleitete mich hinaus. Zu meinem völligen Erstaunen – ich war bereits ein Stück weitergegangen – lief er hinter mir her und steckte mir einen kleinen filigranen Schlüsselanhänger zu. Gleich darauf war er verschwunden und ich blieb verwundert zurück.

Das Geschehen ging mir nicht aus dem Kopf, ich war ambivalent, ob ich mich freuen sollte, ein aus meiner Sicht gutes Geschäft gemacht zu haben, oder mich schuldig fühlen sollte, den Schlüsselanhänger auch noch angenommen zu haben. Ich war schon drauf und dran, wieder in den Bazar zu gehen und den Laden aufzusuchen. Dann besann ich mich und erzählte meinem Vermieter das Vorgefallene.

Der lachte herzlich und machte mich darauf aufmerksam, dass die von mir erworbene Öllampe in etwa den Wert des von mir gezahlten Preises und der Händler somit wohl keinen Profit mit mir gemacht hätte. Dann fragte er mich, was ich denn anstelle des Händlers tun würde, um die Chance zu erhöhen, doch noch einen Reibach mit einem solchen Kunden zu machen? Händler im Bazar von Tunis jedenfalls geben in einem solchen Fall noch eine Kleinigkeit dazu, um die Kundschaft zu binden und die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass diese wiederkommen – und dann ein besseres Geschäft möglich wird.

Hat eine (geschäftliche) Beziehung den Charakter von exaktem Ausgleich, so ist Grenzziehung eher die Folge denn Verbindung – exakter Ausgleich trennt. Das Sprichwort „Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft“ war mir ja schon länger bekannt; mein Konditor hatte schon immer eine Kleinigkeit zu den erworbenen Tortenstücken oder Semmeln in das Papiersackerl dazu gesteckt und auch „Kundenbindung durch Plauderei“ durch den Greißler war mir schon lange Zeit vorher bekannt. Diese Spielart allerdings war mir neu, hatte jedoch jedenfalls für Bindung gesorgt und ein Ausgleichsbedürfnis bei mir hervorgerufen…


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