Problemdiebstahl ist ein Eigentumsdelikt – und was ist hinter dem Kahlenberg?


Heute soll uns in aller nötiger Kürze die Neutralität gegenüber Problemrekonstruktionen von Kundinnensystemen – wir könnten auch von „Veränderungsneutralität“ sprechen – beschäftigen.

Respektvoll-ambivalente Haltung gegenüber Problemrekonstruktionen

Für einen systemisch-lösungsorientierten Berater empfiehlt es sich zunächst, eine neutrale Haltung hinsichtlich einer Veränderungsnotwendigkeit einzunehmen, jedenfalls so lange, bis ihm – beim „Wiener T-A-Z-A-Modell“ anlässlich der Klärung von Themen/Thema, Anliegen („positiver Dreh“), Ziel und Auftrag – ein klarer „Veränderungsjob“ seitens der Kundschaft erteilt worden ist.

Um eine respektvoll-ambivalente Haltung gegenüber Problemrekonstruktionen zu fördern sollte offen bleiben, ob die Beraterin das Problem für etwas „Gutes“ oder „Schlechtes“ hält, ob sie es „wegbekommen“ oder seinen Erhalt fördern will. Als Regel kann hilfreich sein, dass, um Veränderungen möglichst zu verhindern oder zu erschweren, versucht werden sollte, möglichst viel Druck in Richtung der von einem selbst bevorzugten „sinnvollen“ Veränderung („Lösung“) zu machen. Dies impliziert nämlich einerseits die Inkompetenz des Kundensystems und fördert andererseits dessen Abhängigkeit vom Berater.

Wohlverstandene Berater-Verantwortung

Jegliche Beeinflussungsintention von Beraterinnen gegenüber Kundschaften hat aus meiner Sicht die Konsequenz, dass bei Nichtgelingen eine „Beraterhaftung“ greift/greifen müsste, wobei dies hier nicht unbedingt juristisch gemeint ist – vielmehr sollten sich Beraterinnen bewusst sein, dass ihnen diesfalls ein gerüttelt Maß an Verantwortung zukommt (wiewohl wir ja davon ausgehen, dass lebende Systeme regelmäßig nicht instruierbar sind).

Dabei wäre unter Umständen auch hilfreich, wenn sich Berater die Wendungen „Bitte nicht helfen, es ist eh schon schwer genug“, „Warum ist er denn böse auf mich, ich habe ihm doch gar nicht geholfen“, usw. hin und wieder vor Augen halten würden. Auch wenn die Absicht, einer Kundin zu helfen, eine ehrenvolle ist, so ist doch auch stets das „Gut gemeint ist selten gut“ zu berücksichtigen. Ich denke da häufig an einen Ausspruch von Uwe Grau, einem meiner Lehrer, der im Rahmen eines Seminars wortwörtlich wie folgt zum Besten gegeben hat: „Jemandem ein Problem wegzunehmen ist nicht nur nicht hilfreich, es ist vielmehr ein Eigentumsdelikt!“

Zu einer wohlverstandenen Beraterinnen-Verantwortung zählt für mich das Hinterfragen möglichst vieler erwartbarer positiver und negativer Auswirkungen der Verhaltensalternativen, um dadurch Impulse zur Anregung von Reflexionsprozessen bei der Kundschaft geben zu können.

Und hinter dem Kahlenberg?

Stellen Sie sich vor, Sie sehen sich seit einigen Monaten einem Problem gegenüber, das Sie selbstverständlich schon einige Zeit von allen Seiten anschauen, beleuchten, es drehen und wenden, seine Auswirkungen kennen gelernt haben, usw. Dieses Problem könnte vielleicht so etwas wie Ihr „Hausberg“ geworden sein, so wie zum Beispiel der Kahlenberg für die Wiener Bevölkerung. Klar, das ist irgendwie auch ein richtiger Berg, 484 Meter hoch und hin und wieder ganz schön steil…

Und jetzt frage ich Sie: Wer kann Ihnen versprechen, dass, wenn Sie den Kahlenberg überwunden haben, sich dann in der Folge nicht ein ganz anderes Kaliber von Problem auftut, so eines vergleichbar mit dem Mont-Blanc-Massiv? Wer könnte Ihnen den Entschluss verdenken, lieber das bekannte Problem mit seinen Auswirkungen in Kauf zu nehmen als infolge dessen Lösung vielleicht vor einem Problem zu stehen, dessen Dimensionen Sie nicht einmal ansatzweise erahnen können?


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