Das Subjekt: Emanzipation, Individualisierung und flüssige (situative) Identitätsarrangements/A


Dies ist der dritte Beitrag zum Thema „Ökologische Ohnmachtskompetenz“. Bei Interesse können Sie gerne zuvor die ersten beiden Teile – Teil 1, Teil 2 – lesen.

In diesem Beitrag beschäftige ich mich mit dem flüchtig-flüssigen Ich in der spätmodernen Gesellschaft, welches eine der maßgeblichen Restriktionen für eine gelingende (sozial)ökologische Transformation darstellt.

Immanuel Kant und der kategorische Imperativ

Immanuel Kant (1724-1804) hat mit dem Ideal des autonomen Subjekts das Projekt der Emanzipation begründet. Seine Vorstellung ist jene vom „Auszug des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Er fordert das Individuum zum selbstständigen Vernunftgebrauch auf und geht von dessen freien Willen, seiner Würde und ihm zustehenden unantastbaren Grundrechten aus. Allerdings ist für ihn die Aufklärung keine individuelles Projekt, sondern vielmehr ein Menschheitsprojekt.

Seiner Vorstellung nach geht es nämlich um die Befreiung und Verwirklichung des Vernunftwesens, das – nun mündig – die Befähigung hat, sich individuell und kollektiv so zu verhalten, dass man „von der Maxime des eigenen Handelns stets wollen könne, dass sie allgemeines Gesetz werde.“ Diesem Denken ist also ein gemeinsamer Horizont kollektiver Vernunft inhärent, die Selbstverwirklichung des Individuums ist begrenzt durch den Rahmen der kollektiven Selbstbestimmung – und zugleich Selbstbegrenzung. Dieses kantisch-rationalistische Emanzipationsverständnis ist dem Kampf gegen Aberglauben, Irrationalität, Faulheit und Bequemlichkeit gewidmet und von der Hoffnung auf eine kosmopolitische Gesellschaft und auf ewigen Frieden getragen.

Autonomie wird dem Menschen demnach nur zugesprochen, wenn er als mündig und somit als vernunftbegabtes Wesen betrachtet werden kann. Diese Mündigkeit wird als untrennbare Einheit zweier gleichrangiger Elemente, nämlich von Freiheit und Verpflichtung auf die Vernunft, gesehen. Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung werden hier verstanden als vor allem innerlich-moralische, als Vernunftbestimmtheit, als kollektiv-egalitär und schließlich als ökologisch-inklusiv (siehe dazu weiter unten).

Es kann in diesem Zusammenhang von der „philosophischen Moderne“ gesprochen werden, wobei dieses Kant´sche regulative Ideal als normativer Referenzpunkt mehr oder weniger durch die erste Moderne (klassische Industriegesellschaft) bis weit in die zweite Moderne (postindustrielle Gesellschaft) hinein trägt.

Von der kapitalistischen Industriegesellschaft zur postindustriellen Gesellschaft

In der kapitalistischen Industriegesellschaft war die unterdrückte und ausgebeutete Arbeiterklasse das primäre Subjekt des Emanzipationsprojekts. Autonomieansprüche richteten sich auf die Befreiung von der Knechtschaft, es ging zunächst um bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne sowie um ein Minimum an sozialer Absicherung. Als Emanzipationshorizont diente die vom Kapitalismus befreite und schließlich befriedete Weltgesellschaft (Karl Marx, 1818-1883). In dieser würden die Menschen individuell und kollektiv ihre Potenziale entfalten können. Mit der Befreiung vom Kapitalismus würde das – bislang unterdrückte und entfremdete – essenzielle Wesen seine volle Verwirklichung finden.

Auf dem Hintergrund beachtlichen Wirtschaftswachstums, vielfältiger (Bildungs-)Institutionen, sozialer Absicherungssysteme, einem unerschütterlichen modernen Fortschrittsversprechen und zunehmender (zeitlicher) Beschleunigungsprozesse gerät nun mit dem Übergang zur postindustriellen Gesellschaft eine der Seiten der Emanzipationsmedaille, nämlich die Emanzipation kollektiver Subjektivitäten, sukzessive ins Hintertreffen. Bislang waren Freiheit und Selbstbestimmung – wie oben ausgeführt – als in mehrfacher Hinsicht begrenzt gedacht worden. Nunmehr drängt zusehends das individuelle Subjekt ins Zentrum des emanzipatorischen Projekts und verlangt nach individueller Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und sozialer Anerkennung. Es kommt vermehrt zur Abkehr vom Ideal der Selbstdisziplin, von der Unterordnung unter soziale Normen bzw. Autoritäten. Mehr und mehr geht es um Selbstentfaltung sowie um die Artikulation und das Erleben des eigenen authentischen Selbst.

Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts allerdings verlangsamt sich das wirtschaftliche Wachstum der Nachkriegszeit spürbar, wird Arbeitslosigkeit wieder zum Problem, wackelt die ökonomische Basis des Wohlfahrtsstaates und seiner Institutionen. Vor allem aber werden die ökologischen Folgen der Moderne sichtbar, die Auswirkungen von Kapitalismus und Konsumindustrie (vgl. etwa Meadows, D & D/Club of Rome: „Die Grenzen des Wachstums“, 1972).

Die Neuen Sozialen Bewegungen und das ökoemanzipatorische Projekt

In dieser Zeit treten die „Neuen Sozialen Bewegungen“ (NSB) auf den Plan und wird das „ökoemanzipatorische Projekt“ (Ingolfur Blühdorn, *1964) begründet. Diese Bewegungen (und später Parteien) verstehen sich weiterhin als kollektives Subjekt und als kollektiven politischen Akteur. Ihr Programm ist einerseits geprägt vom Vertrauen in die zivilgesellschaftliche Selbstorganisation und die demokratische Selbstregierung und somit in die Ausweitung demokratischer Partizipation als Mittel progressiver Politik, um das autonome Subjekt aus übergeordneten Zwängen und aller Fremdbestimmung herauszulösen.

Andererseits vertreten die NSB die Unterordnung unter kategorische ökologische Notwendigkeiten, sie fordern für die Natur den gleichen Subjektstatus, den sie für alle Menschen (zumindest für alle Bürgerinnen und Bürger) individuell und kollektiv verlangen. „Ökologisch-inklusiv“ bedeutet demnach, dass Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung durch das Gebot des kategorischen Vernunftimperativs begrenzt sind, soll heißen, dass der Natur die gleiche Freiheit, Würde und Integrität zuerkannt wird, welche die Moderne menschlichen Subjekten einräumt („Politische Ökologie“ oder „ecologism“). Ökologische Mündigkeit und Verantwortlichkeit sind die essenziellen Leitbilder, die Verantwortlichkeit erstreckt sich demnach auf die gesamte Gesellschaft und sogar auf die Menschheit insgesamt, inklusive zukünftiger Generationen. Die Forderungen richten sich nicht an das selbstinteressierte Privatindividuum (bourgeois), sondern vielmehr wird der ökologische Bürger (citoyen) gefordert.

Es ist unschwer zu erkennen, dass das ökoemanzipatorische Projekt seit jeher an seiner inneren Widersprüchlichkeit („doppelte Selbstverpflichtung“ auf miteinander in Konflikt stehende Werte und Ziele – „ökoemanzipatorisches Paradox“) laboriert hat und schließlich, so muss angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen wohl festgestellt werden, auch daran gescheitert ist. „Ein gutes Leben für Alle“ (Martha Nussbaum, *1947) scheint außerhalb jeder Reichweite.

Befreiung aus der Verpflichtung zur Mündigkeit

Nach dem Auszug des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit scheint es in der Spätmoderne (als letzten Abschnitt der zweiten Moderne, das Eintreten in eine dritte Moderne gilt es abzuwarten) nahtlos in die Befreiung aus der Verpflichtung zur Mündigkeit zu gehen.

Den 4. Teil der Serie finden Sie hier.

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2 Antworten zu “Das Subjekt: Emanzipation, Individualisierung und flüssige (situative) Identitätsarrangements/A

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