Archiv der Kategorie: Gesellschaftstheorie

Jenseits aller Tools: Systemisches Coaching als Oase in einer Welt von Beschleunigung und Konkurrenz


Intro

Von Steve de Shazer (1940-2005) persönlich durfte ich noch lernen, aus dem Verhalten eines Menschen zu schließen, „wer da bei der Tür hereinkommt“ (Klagende/r, Besucher/in, Kundin/Kunde oder Co-Berater/in), von Insoo Kim Berg (1934-2007), seiner Frau, hingegen – und das fand ich von Anfang an für meine Arbeit als Coach noch hilfreicher – „was bei der Beratung herauskommt“ (vgl. diesen Beitrag). Wie Menschen heutzutage in die Welt gestellt sind und wie ihnen diese begegnet – und wie wertvoll in dieser Hinsicht systemisches Coaching sein kann – darauf mag ich heute das Brennglas richten.

Gleich vorab: Dieser Beitrag hat für sogenannte „Tooligans“ wenig zu bieten – und das mit voller Absicht. Zu oft wird darüber diskutiert, welche Fragetechnik „die effektivste“, welche Formulierung „die beste“, welche Methode „die zielführendste“ sei. Die Beschäftigung mit „passgenauen“ Versprachlichungen und Tools gibt uns als Coaches ein Gefühl der Selbstwirksamkeit und vermittelt eine (Schein-)Sicherheit. Selbstverständlich ist es überaus nützlich, über einen bei Bedarf professionell („aus dem Effeff“) zum Einsatz zu bringenden „Werkzeugkoffer“, eine prall gefüllte „Toolbox“, oder wie immer man das bezeichnen mag, zu verfügen. Vor allem deshalb, damit wir als BeraterInnen uns ganz der Kundschaft widmen können – etwa die „Keywords“ auch hören – ohne uns mit der Frage in unserem Kopf (denn dann gelingt das Zuhören nicht mehr) beschäftigen zu müssen, ob wir „eh nicht nur einen Hammer haben“ (denn dann dürfte ja auch nichts Anderes als ein Nagel „daherkommen“).

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„Kunst – Liebe – Religion: Theorie der Humanmedien“ von Harry Lehmann (Buchrezension)


Im Anschluss an die überaus empfehlenswerte Publikation „Ideologiemaschinen“ legt der an der Universität Luxemburg lehrende Philosoph Harry Lehmann (*1965) nunmehr mit „Kunst – Liebe – Religion: Theorie der Humanmedien“ ein bemerkenswertes Buch vor, welches ich ebenfalls uneingeschränkt jeder bzw. jedem Interessierten an Hirn und Herz legen möchte.

Lehmann folgt Luhmann und weist über diesen hinaus

Schon seit gut zwei Jahrzehnten beschäftigt sich Harry Lehmann mit den „blinden Flecken“ der soziologischen Systemtheorie Luhmann´scher Prägung. Der guten Ordnung halber sei angemerkt, dass es sich hierbei um Flecken handelt, die schon Niklas Luhmann (1927-1998) selbst an diversen Stellen seines monumentalen Werks gekennzeichnet, ja als Abweichungen von seiner Theorie „ausgeflaggt“ hat, indem er beispielsweise dem Kunstsystem eine „schwache Systembildungsfähigkeit“ bescheinigte. Dabei ist es dann aber auch geblieben.

Kurz und bündig: Gesellschaftsstrukturelle funktionale Differenzierung

Im Rahmen einer Buchrezension kann zur neueren soziologischen Systemtheorie, wie sie maßgeblich von Niklas Luhmann entwickelt worden ist, nur ganz Grundsätzliches ausgeführt werden: Nach Luhmann ist Gesellschaft die Summe aller menschlichen Kommunikationen. Sie ist strukturiert durch unterschiedliche Kommunikationsmedien, welche spezielle Funktionen haben, um gesellschaftliche Probleme zu lösen. In der Moderne bilden sich somit symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien aus, welche soziale Systeme steuern und gesellschaftliche Subsysteme (etwa das Rechtssystem, das politische System, das ökonomische System, usw.) schaffen. Innerhalb dieser folgen Kommunikationen einem bestimmten binären Code.

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Das Subjekt: Emanzipation, Individualisierung und flüssige (situative) Identitätsarrangements/B


Dies ist der vierte Beitrag zum Thema „Ökologische Ohnmachtskompetenz“. Bei Interesse können Sie gerne zuvor die ersten drei Teile – Teil 1, Teil 2, Teil 3 – lesen.

Im letzten (Teil A) sowie in diesem Beitrag beschäftige ich mich mit dem flüchtig-flüssigen Ich (oder sollte es treffender schon als „gasförmig“ bezeichnet werden?) in der spätmodernen Gesellschaft, welches eine der maßgeblichen Restriktionen für eine gelingende (sozial)ökologische Transformation darstellt.

Befreiung aus der Verpflichtung zur Mündigkeit

Nach dem Auszug des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit scheint es in der Spätmoderne (als Abschnitt der zweiten Moderne, das Eintreten in eine dritte Moderne gilt es abzuwarten) nahtlos in die Befreiung aus der Verpflichtung zur Mündigkeit zu gehen. War vormals die Idee der selbstbestimmten Lebensführung um die Vorstellung ergänzt worden, dass Vernunft, Natur und Gemeinwohl so etwas wie „natürliche Grenzsteine“ für die dem Subjekt eröffneten Spielräume darstellten, womit für eine zumindest in den Grundzügen verallgemeinerbare verträgliche Lebensführung und Glücksvorstellung gesorgt wäre, so erweisen sich in der Spätmoderne Selbstentfaltung, Selbstwachstum und Selbstoptimierung als zentrale kulturelle Maximen.

Wie lässt sich das erklären? Einerseits dehnt sich der Selbstbestimmungsanspruch auf immer mehr Sphären des Lebens aus, andererseits verlieren damit die Grenzsteine Vernunft, Natur und Gemeinwohl ihre Plausibilität. Die Befreiung aus der Verpflichtung zur Mündigkeit ist die Folge.

Der Umbau der institutionellen Sphären braucht autonom handlungsfähige Subjekte

Zudem hat sukzessive ein Umbau der Institutionen stattgefunden, die nunmehr – nach je individuellen Vorlieben – autonom handlungs- und entscheidungsfähige Subjekte benötigen. Diese werden demnach Zug um Zug zum funktionalen Erfordernis moderner Institutionen. Die zeitliche Deregulierung (etwa Arbeit-Freizeit) und Ent-Institutionalisierung vieler Handlungsfelder steigert massiv den Aufwand des Subjekts für Planung, Koordination und Synchronisation der alltäglichen Handlungssequenzen und wird als Zeitnot und Stress erlebt.

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Das Subjekt: Emanzipation, Individualisierung und flüssige (situative) Identitätsarrangements/A


Dies ist der dritte Beitrag zum Thema „Ökologische Ohnmachtskompetenz“. Bei Interesse können Sie gerne zuvor die ersten beiden Teile – Teil 1, Teil 2 – lesen.

In diesem Beitrag beschäftige ich mich mit dem flüchtig-flüssigen Ich in der spätmodernen Gesellschaft, welches eine der maßgeblichen Restriktionen für eine gelingende (sozial)ökologische Transformation darstellt.

Immanuel Kant und der kategorische Imperativ

Immanuel Kant (1724-1804) hat mit dem Ideal des autonomen Subjekts das Projekt der Emanzipation begründet. Seine Vorstellung ist jene vom „Auszug des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Er fordert das Individuum zum selbstständigen Vernunftgebrauch auf und geht von dessen freien Willen, seiner Würde und ihm zustehenden unantastbaren Grundrechten aus. Allerdings ist für ihn die Aufklärung keine individuelles Projekt, sondern vielmehr ein Menschheitsprojekt.

Seiner Vorstellung nach geht es nämlich um die Befreiung und Verwirklichung des Vernunftwesens, das – nun mündig – die Befähigung hat, sich individuell und kollektiv so zu verhalten, dass man „von der Maxime des eigenen Handelns stets wollen könne, dass sie allgemeines Gesetz werde.“ Diesem Denken ist also ein gemeinsamer Horizont kollektiver Vernunft inhärent, die Selbstverwirklichung des Individuums ist begrenzt durch den Rahmen der kollektiven Selbstbestimmung – und zugleich Selbstbegrenzung. Dieses kantisch-rationalistische Emanzipationsverständnis ist dem Kampf gegen Aberglauben, Irrationalität, Faulheit und Bequemlichkeit gewidmet und von der Hoffnung auf eine kosmopolitische Gesellschaft und auf ewigen Frieden getragen.

Autonomie wird dem Menschen demnach nur zugesprochen, wenn er als mündig und somit als vernunftbegabtes Wesen betrachtet werden kann. Diese Mündigkeit wird als untrennbare Einheit zweier gleichrangiger Elemente, nämlich von Freiheit und Verpflichtung auf die Vernunft, gesehen. Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung werden hier verstanden als vor allem innerlich-moralische, als Vernunftbestimmtheit, als kollektiv-egalitär und schließlich als ökologisch-inklusiv (siehe dazu weiter unten).

Es kann in diesem Zusammenhang von der „philosophischen Moderne“ gesprochen werden, wobei dieses Kant´sche regulative Ideal als normativer Referenzpunkt mehr oder weniger durch die erste Moderne (klassische Industriegesellschaft) bis weit in die zweite Moderne (postindustrielle Gesellschaft) hinein trägt.

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Ökologische Ohnmachtskompetenz: Annäherung an einen neuen Begriff


Bei Interesse lesen Sie zunächst diesen Beitrag. Dies ist der 2. Teil der Serie zum Begriff der „Ökologischen Ohnmachtskompetenz“.

Alles, was jetzt folgt, kann nur der Versuch einer Annäherung sein.

Von der „Nachhaltigkeit“ zur „Bewohnbarkeit“

Lassen Sie mich so beginnen: Wir Menschen sind zu einer geologischen Kraft geworden. Wir sind im geologischen Sinne eine „Naturgewalt“ und agieren als Hauptdeterminante der planetaren Umwelt. Daher wurde diesem neuen geologischen Zeitalter (beginnend mit dem Jahr 1945) auch der Name „Anthropozän“ gegeben (Paul J. Crutzen und Eugene F. Stoermer). Und wir Menschen schaffen es, jene parametrischen Bedingungen, die wir für unsere Existenz benötigen, massiv zu beeinträchtigen.

Bislang haben wir in den Kategorien Welt, Erde und Globus nachgedacht und in diesen Zusammenhängen etwa mit den Begriffen Naturschutz, Umweltschutz und Nachhaltigkeit hantiert. Ergiebiger und „weiter“ erscheint da schon der Begriff der Ökologie, verstanden als Gesamtheit der Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt, vom Stoffhaushalt und den Energieflüssen, die das Leben auf der Erde möglich machen, und von den Anpassungen der Organismen an die Lebensbedingungen. Ökologisches Verhalten ist sohin auf den Erhalt und die Förderung dieser Gleichgewichts-Gesamtheit gerichtet.

In Zukunft gilt es jedoch – denn es macht einen großen Unterschied – denkerisch (auch) dem Planeten zu begegnen, eine Begegnung mit etwas, das die Bedingung der menschlichen Existenz ist und dieser Existenz doch zutiefst gleichgültig gegenübersteht. „Denn wir leben am Scheitelpunkt von Globalem und Planetarischem“ (Dipesh Chakrabarty).

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Ökologische Ohnmachtskompetenz: Zum Geleit


Dies ist der 1. Teil der Serie zum Begriff der „Ökologischen Ohnmachtskompetenz“.

Ökologischer Grundkonsens

In den letzten Jahrzehnten hat sich so etwas wie ein „Grundkonsens“ zur ökologischen Frage entwickelt, der in etwa so lautet: Westliche kapitalistische Wachstumsgesellschaften und die von ihren Bürgerinnen und Bürgern an den Tag gelegten konsumorientierten Lebensstile sind nicht nachhaltig. Es werden begrenzte Ressourcen verschwendet, wodurch viele und immer drängendere Umweltprobleme verursacht werden.

Die Folge sind ökologische, soziale und ökonomische Krisen, denen auf nationaler Ebene nicht erfolgreich begegnet werden kann, weshalb internationale Kooperation und Aktion für notwendig erachtet werden. Da das Überleben der gesamten Menschheit bedroht ist, lautet die Forderung: „Weitermachen wie bisher ist keine Option – Wende oder Ende!“.

Bis vor kurzem noch war das vorherrschende Narrativ, dass es alternativlos wäre, die Probleme früher oder später anzugehen (und so ist es schon seit Jahrzehnten „5 Minuten vor 12“, seit 22. Jänner 2025 steht die Weltuntergangsuhr nunmehr auf „3 Minuten vor 12“). Im wissenschaftlichen Diskurs werden Kipppunkte im Klimasystem mittlerweile breit diskutiert. Als Ziele der notwendigen Veränderungen werden der Erhalt der natürlichen Umwelt und ein „gutes Leben für Alle“ (Martha Nussbaum) ausgerufen.

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